Als Synonym zur Unvollkommenheit schlägt mir der Duden die Blöße vor. Beginne ich doch lieber dort. Ich mache mich also nackt. Nicht um das Unvollkommene an mir zu zeigen. Die Blöße erscheint mir eher als verlässliche Strategie, davon abzulenken, weil sie die Blicke auf sich zieht. Die Unvollkommenheit fällt zwar auch auf, möchte aber ungesehen bleiben. Sie schämt sich. Ich bin lieber entblößt als unvollkommen. Wäre dieser Text eine Familienaufstellung, dann wäre die vorlaute Schwester die Blöße, die leise…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
Wäre dieser Text eine Familienaufstellung, dann wäre die vorlaute Schwester die Blöße, die leise die Unvollkommenheit, und irgendwo wuselte eine Stiefschwester mit: die Scham. Und da ich mit den Positionen dieser Geschwister etwas erkennen möchte, beginne ich doch am besten mit der Scham. Mit meiner. Sie liegt auf-gedeckt da. In einer Liebesbeziehung, die ich seit kurzem habe.
Nächtelang haben wir uns nur geküsst, neugierig und ausdauernd. Erst dann ziehen unsere Hände Oberteile über den Kopf, berühren die nun bloßen Stellen, die vorher nur, als sei es unabsichtlich, gestreift worden waren. Die Augen zögern, sich der Blöße zuzuwenden. Sie haften noch auf dem Gesicht, sie sind scheu. Auch die Worte sind vorsichtig, die Worte, die wir sprechen.
Ich frage: „Wie fühlt sich das an?“
Stefan sagt: „Zeig mir, wie du es magst.“
„Sanft“, sage ich. Wort und Berührung fallen zusammen.
Genau so komme ich in eine Selbstvergessenheit. Und in diesem kurzen, zugleich zeitlosen Zustand vergesse ich den Fuß. Die Kontrolle tritt ins Nirgendwo zurück. Danach ist sie unmittelbar wieder da.
Ich kann nichts dafür. Ich schäme mich.
Ich achte darauf, dass mein Fuß unter der Bettdecke oder einem Kissen bleibt. Er ist nie in Stefans Blickachse, wird nicht einbezogen in unsere Hingabe. Weil da eine Scham ist, die größer ist als jede andere. Ich habe eine Barriere errichtet, die Stefan unbewusst spürt und respektiert. Ich muss weder Hände zurückhalten noch etwas sagen. Als ich aufstehe, ziehe ich als Erstes Socken an.
Mein Klumpfuß ist der Freak an mir. Je länger er verborgen bleibt, umso schwieriger wird es, ihn zu zeigen. Weil durch die Nähe, die entsteht, das Erschrecken zugleich heftiger ist. Das glaube ich zumindest. Manchmal hebe ich an zu sprechen und lasse es dann doch sein. Irgendwann in diesen ersten Wochen, in denen sich das Zaghafte zwischen Stefan und mir verliert, wir uns kennenlernen, irgendwann da ist der Moment verstrichen, mich wirklich zu entblößen und meine Verkrümmung zu zeigen. Die schmale Wade und den nach innen verdrehten Fuß mit dem seitlich hervorstehenden Ballen. Hier ist er, sieh hin. Hässlich, aber ein Teil von mir. Eine Erfahrung, die ich gemacht habe. Materialisierter Schmerz. Etwas in mir sehnt sich danach, dass Stefan den Fuß zärtlich berührt. Da ich es aber selbst nicht kann, darf es auch niemand anderes machen.
Dabei ist mein Fuß nicht zu verheimlichen. Bei jedem Schritt hängt er nach innen. Ich rolle ihn nicht von der Ferse zum Ballen ab, sondern patsche ihn auf den Boden. Ich habe Stefan gesagt, dass er gelähmt ist. Zwischen Sagen und Zeigen ist ein großer Unterschied. Und es gelingt mir, ihn in seiner Abnorm nicht zu zeigen. Auch meinen Gang so wenig wie möglich. Vor allem wenn ich ohne die Stiefel bin, die meine Schritte flüssiger erscheinen lassen, als sie in Wirklichkeit sind. Deshalb gehe ich hinter Stefan die Treppe hoch, begründe es damit, dass er mir nicht auf den Hintern sehen kann. So prüde gebe ich mich, sogar wenn wir direkt aus dem Bett kommen. Ich stehe in der Küche auch nicht vom Tisch auf, um Wasser zu trinken. Damit er nicht sieht, wie ich zum Spülbecken gehe. Es sind mindestens vier Schritte. Ich bleibe sitzen. Ich lasse mich bedienen, was gar nicht meine Art ist. Oder ich bleibe durstig.
Permanent versuche ich, einen Teil meines Körpers zu tarnen, der anders ist. Deformiert. Ein Prozess, der andauernd mitläuft.
Ich denke: Ich kann nichts für den Fuß.
Ich schäme mich trotzdem.
Ich denke auch: Ich bin schuld.
Mein Gehen ist seelenblind
Seit zwölf Jahren habe ich eine Lähmung im linken Fuß, ausgelöst durch einen Bandscheibenvorfall. Es hat Jahre gedauert, bis ich verstanden habe, dass ich beeinträchtigt bin. Dass es so bleiben wird. Und noch mal Jahre, bis ich darüber sprechen konnte. Jahre für diesen Text.
Ich kann bestimmte Muskeln nicht mehr ansteuern, die Zehen nicht, nur den großen ein wenig. Ich kann den Fuß auch nicht heben, nicht auf seinen Spitzen stehen. Nervus peroneus superficialis heißt der Nerv, der dafur verant-wortlich ist. Er schickt die Reize an den Muskel. Angelegt im Körper, wird er durch erste Bewegungen aktiviert, kindliches Strampeln zum Beispiel. Er bekommt eine Zielrichtung, wenn das Kind krabbelt, wenn es versucht, sich aufzurichten, am Sofa entlangtapst. Bei jedem Schritt verfestigt sich der Nerv, er transportiert das Wissen, damit der Muskel sich anspannen kann. Was immer und immer wieder so aktualisiert wird, schreibt der französische Philosoph Henri Bergson in Materie und Gedächtnis, hat den Anschein, angeboren zu sein. Die Ende des 19. Jahrhunderts erschienene Abhandlung über die Beziehung von Körper und Geist zeigt jedoch auch, dass es nicht mehr als ein Anschein ist. Der Körper kann eine eingeübte Erinnerung auch wieder vergessen.
So ist es bei mir. Der Nerv wurde zu sehr gedrückt, zu lange auch. Er erholt sich nicht. Obwohl dies Kaugummistück von Bandscheibe entfernt und ihm wieder Platz geschaffen wurde. Im Spinalkanal verletzt, verlauft er uber die Hufte in den Oberschenkel, verästelt sich oberhalb des Knies und verliert sich in der Wade. Zwischen Knie und Knochel sind tote Enden. Ich stelle sie mir wie Tentakel vor, die nichts mehr greifen können. Wenn ich den Fuß hochziehen mochte, bleibt er wie mit Bandern am Boden fixiert. Meine Muskeln sind mittlerweile atrophiert, die linke Wade bewegt sich weich zwischen meinen Fingern.
Mein Gehen ist dadurch wie seelenblind. Ich gehe, ohne dass der Fuß geht. Ich erinnere mich zwar an jene Zeiten, in denen er noch genau und kraftvoll auf den Boden aufkam und sich ebenso abdrückte, ich als Mädchen bei einem Handballspiel mit dem Ball ins gegnerische Feld sprintete, mein erstes bejubeltes Tor, oder später auf einen geliebten Menschen zurannte. Im Traum tue ich das noch oft: rennen. Doch in Wirklichkeit haben Gehirn, Rückenmark und Nerven die motorische Gewohnheit alter Tage verloren. Ich hätte meinen Sohn, als er noch klein war, nicht mit raschen Schritten von einer stark befahrenen Straße wegziehen können. Zum Glück war er als Kleinkind eher anhänglich.
Perfektion in Menschengestalt
In den letzten Jahren hat sich der Fuß zudem verformt. „Dir wächst ein sechster Zeh“, sagte meine Freundin Sandra einmal dazu. Sie ist eine der wenigen, denen ich den Fuß gezeigt habe. Und tatsächlich drückt sich unterhalb des kleinen Zehs eine walnussgroße Beule heraus. Ich weiß gar nicht genau, wann das passiert ist. Es kann nicht von jetzt auf nachher geschehen sein, und doch ist irgendwann der Klumpen da, der da nicht hingehört. Er wird größer, gleicht wahrscheinlich die Instabilität aus. Vielleicht sind auch einfach die Innereien des Fußes dort hingerutscht, weil die Muskeln sie nicht mehr halten können. Dicke Hornhaut bildet sich und zugleich ist die Stelle ungemein empfindlich.
Manchmal schießt Schmerz in meine Zehen, heiß. Er wird im Rücken produziert. Trotzdem massiere ich die Zehen, selbst wenn das nichts lindert. Auch sie sind dünn. Sie krümmen sich nach unten. Ich brauche manchmal mehrere Anläufe, um in den Schuh zu kommen. Die Zehen bleiben an der Unterseite haften und knicken um. Mein Schuh, ich trage nur noch ein bestimmtes Paar, auch im Hochsommer, wird eng über den Knöcheln geschnürt, eine spezielle Einlage ist darin. Dieser Schuh ist links ausgebeult, das Leder rissig. Meine Socken reißen auch alle links vorne zuerst auf.


Mein Körper trägt ein Stigma
Meine Freundin Petra hat eine Narbe an der Stirn, weil sie am Kopf operiert wurde. Ihren Pony legt sie so, dass er die Narbe verdeckt. Obwohl sie mir ihre Krankheitsgeschichte erzählt hat, dauert es Jahre, bis ich die Unebenheit zum ersten Mal sehe, überhaupt weiß, dass sie da unter den Haarsträhnen ist. Für mich ist sie unscheinbar. Höchstens ein bisschen verwegen.
Wenn jeder menschliche Körper also in der einen oder anderen Form versehrt ist: Warum schäme ich mich für meinen Fuß? Wenn es das ist, was uns ausmacht: Wo ist dann der Übergang in einen Zustand, den ich als abnorm empfinde? Wo beginnt das Gefühl des Mangels? Ist ein ungleiches Bein, das angeblich jede und jeder hat, wenn wir nachmessen würden, dann eine Beeinträchtigung, wenn es den Körper beeinflusst, etwa die Hüfte? So ist es bei mir. Meine rechte Hüfte verdreht sich immer mal wieder. Sie schmerzt dann beim Gehen, als riebe andauernd etwas über sie. Das belastet den Alltag. Oder ist es die Sichtbarkeit, der hinkende Gang? Die Blicke der anderen?
„Wir leben innerhalb einer Gemengelage von Beziehungen, die Platzierungen definieren, die nicht aufeinander zuruckzufuhren und nicht miteinander zu vereinen sind“, schreibt Michel Foucault in Andere Räume. Und der Körper ist letztlich ein Raum, ausgedehnt, real und doch durch bestimmte Merkmale abgegrenzt, verschiedenartig zu anderen Körpern. Ich folge also den strukturtheoretischen Überlegungen des französischen Philosophen, der reale Räume beschreibt, die sich durch Andersheit auszeichnen.
Übertrage ich seine Analyse auf den Körper, dann ist der beeinträchtigte Körper ein Abweichungskörper. Er definiert sich durch seine abweichenden Merkmale, durch seinen Abstand zur Norm. Und der Körperteil wird erst bewusst, so war es zumindest bei mir, als er sich veränderte, abwich, ich nicht mehr geschmeidig ging. Nie hätte ich gesagt: Ich gehe geschmeidig. Es war selbstverständlich, mir gar nicht bewusst. Ich bin einfach gegangen. Gerannt. Gehüpft. Schlittschuh gelaufen. Vollkommen. Das erkannte ich erst, als ich es verlor. Ich wusste nicht einmal, dass ich es verlieren kann – bis zu dem Tag, an dem es geschah. Ich war auch vollkommen unbedarft.
Nun trägt mein Körper ein Stigma, ein in unerwarteter Weise anderes Zeichen. Dass diese Körpererfahrung und -wahrnehmung nicht naturalistisch gedacht werden kann und soll, darauf weisen – auch mit Bezug auf Foucault – die disability studies hin, die sich aus der Behindertenbewegung der 1980er Jahre entwickelt haben: Eine Behinderung ist keine unhintergehbare Natur, sondern soziales Produkt. Es bleibt also zu fragen, wer eigentlich meinen Fuß als unvollkommen, als abnorm definiert. Ob er allein durch Abweichung zu verstehen ist. Denn: Hinkten alle Menschen mit dem linken Bein, wäre diejenige, die es nicht täte, die Besondere unter uns. Ihr Rennen fiele uns auf, erschreckte uns. Wir würden es im Zirkus oder in Shows exponieren. Wir guckten hin, fasziniert, und senkten den Blick. Spätestens dann, wenn sie uns zurück anstarrte.
Was ich fühlte, ist nicht mehr das, was ich sah
Doch das ist nur die eine Seite, die äußere. Die entsteht, wenn ich mich als Teil in einem System betrachte. Wenn ich mich jedoch von innen meinem Fuß zuwende, dann sind es Schuld und Versagen, die ich spüre. Ich habe nicht auf mich aufgepasst.
Denn als ich den Bandscheibenvorfall hatte, lag ich nicht nur mit den Unterschenkeln auf zwei Kissen und ließ die Schmerzmittel wirken. Ich habe mich irgendwann, es war längst dunkel draußen, auch auf die Seite gedreht und die Füße auf den Boden gestellt. Ich hielt mich am Bettpfosten fest und zog mich hoch. Am Waschbecken stützte ich mich mit einer Hand ab, um das Gewicht ein wenig vom Rücken zu nehmen. Mit der anderen Hand trug ich Puder auf, Wimperntusche. Ab jetzt durfte ich nicht mehr weinen. Lippenstift. Ich zog ein Kleid an, ohne die Arme durchzustrecken. Ich ließ meinen Stolz zu Hause und rief ein Taxi. Um einem Mann in einen Club zu folgen, einem Mann, der nicht bei mir geblieben war und es auch später nicht tun würde. Doch diese Erfahrung musste ich wohl noch schmerzhaft machen.
In den Morgenstunden lag ich wieder auf dem Rücken im Bett. Mein Schweiß stank. Ich bewegte die Beine zur Seite und der Fuß streifte über eine glatte, kühle Oberfläche, vielleicht eine Illustrierte. Doch da war nur das weiche Bettlaken. Keine Zeitschrift, nichts dergleichen. Auch wenn der Fuß mir genau diesen Eindruck vermittelte. Ab diesem Moment würde das, was ich an Fuß und Wade fühlte, nicht mehr das sein, was ich sah, was tatsächlich war. Eine lebenslange Kongruenz war zu Ende.
Mein Tritt bestätigte mir, was ich schon im stroboskopischen Licht der Tanzfläche geahnt, aber wegen irgendwelcher Substanzen nicht gespürt hatte: Ich trat in Weichheit hinein. Ich schwankte, hielt mich an der Wand fest. Mein Fuß war gelähmt. Und ich war schuld. Weil ich mich zwar durch Sorge auszeichne, vor Fehlern zum Beispiel, aber keine Fürsorge für mich hatte aufbringen können.
Jeglichen Halt verloren
Die Lähmung kommt mir, auch heute noch, wie eine Bestrafung vor. Die Behinderung als Folge einer Missachtung meiner selbst. Ich quäle mich damit, weil mein Geist sich wieder und wieder an dem Moment aufhängt, als ich den Druck auf den Nerv noch mal zusätzlich verstärkt habe. Jetzt, da dieser Text entsteht, frage ich mich, warum ich mich gedanklich so kasteie. Ich gebe der Unvollkommenheit einen Sinn, indem ich sie kausal mit eigenem schuldhaftem Verhalten verbinde. Damit reduziere ich sie aber auch auf eine Antwort, eine verzweifelte Antwort vielleicht, die andere Faktoren wie Zufall, Emotionales oder so etwas Ungreifbares wie eine höhere Macht, vielleicht sogar eine Erfahrung wieder verdeckt.
Letztlich ist die Schuldzuweisung aber nur eine Lesart unter vielen. Und mein Fuß weist genauso gut noch woanders hin. Er macht einen Schmerz sichtbar, der auf emotionaler Ebene schon lange da war. Die geschädigten Nervenbahnen könnten unbestimmt auch in meine Vergangenheit tasten. Zu etwas in meiner Familie. Denn die Schädigung des Nervs geschieht in einer Situation, als ich von einem Mann verlassen werde und das Gefühl habe, jeglichen Halt zu verlieren.
Ich könnte schreiben, dass ich einfach eine ungeschickte Bewegung gemacht habe, und die habe ich auch gemacht. Wie unzählige Male davor, wie unzählige Male danach. Ich könnte aber auch die Somatik verlassen. Dann ist die Verletzung in einem Gefühl entstanden, das ich aus Kindheitstagen schon kannte und mir bisher nicht ansehen wollte. Wenn ich mich also meinem Fuß zuwende, meinen unsicheren Tritt als inneres Wanken betrachte, liegt darin die Möglichkeit, etwas Tieferes, Älteres zu finden, im Idealfall zu verstehen. Auch diese Deutung ist nur eine von mehreren, ist subjektiv und uneindeutig, wird die Lähmung nicht abschließend erklären. Und doch ist mein Suchen sinnhaft und letztlich spezifisch menschlich.
Der Mann auf dem Fahrrad
Meine Freundin Petra, die mit der Narbe, geht schon lange mit mir spazieren, überhaupt schon Jahre neben mir her. Auf unseren Wegen wechselt sie automatisch die Seite, wenn die, auf der sie gerade ist, schräg nach oben geht, so dass ich dort meine Schritte machen kann. Denn ein nach links ansteigender Boden ist wunderbar für mich, er ist meine Prothese. So kann der Fuß nicht umknicken, ich nicht stolpern. Petra macht diesen Seitenwechsel wortlos und, ich glaube, mittlerweile auch intuitiv. Ihre Geste ist zutiefst empathisch: Sie nimmt mich in meiner Asymmetrie wahr und unterstützt mich. So wie ich bei meiner Freundin Helga auf die Seite gehe, auf der sie noch besser hört. Es ist auch die Fähigkeit, uns in andere zu versetzen, die uns Menschen auszeichnet. In der Evolution wird dieses Verhalten als „hyperkooperativ“ bezeichnet, das den Homo sapiens etwa von Menschenaffen unterscheidet: zu erkennen, was der andere braucht, und sein Bedürfnis zu internalisieren. Letztlich sich selbst zu erkennen.
Bei einem der Spaziergänge mit Petra starre ich auf den linken Fuß eines Mannes. Er ist von seinem Rennrad abgestiegen und geht vor uns durch den Park, wahrscheinlich schiebt er sein Fahrrad, weil zu viele Menschen unterwegs sind. Sein linker Fuß hängt mit der Außenseite nach unten, als er ihn vom Boden löst. Wie eine Sichel. Seitlich berührt der Fuß als Erstes wieder den Boden. Ich erkenne es sofort, ich beobachte weiter. Wie das Bein den Fuß hochzieht, wieder absetzt. Der Wille reicht für das Bein, nicht mehr für den Fuß. Die Impulse gehen verloren, als seien sie nie ausgesendet worden. Der Fuß setzt nicht um, was der Mann will. Da ist der Mann ohne Macht.
Seine linke Wade ist tätowiert mit Tribals. Ich weiß sofort, warum er das gemacht hat: Die Wade ist schlaff wie meine, diejenigen Muskeln, die den Spann und die Zehen bewegen, sind zwischen den anderen verkümmert. Die Tattoos laden dazu ein, hinzusehen, sie sind großflächig und schwarz. Zugleich lenken sie ab. So wie ich es mit meinem Nacktmachen in diesem Text versucht habe. Die Schwäche der Wade ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen, gerade weil sie markiert ist. In ihrer Auffälligkeit tarnen die Zeichen. Das ist eine Taktik, zu der die Schriftstellerin Lea Schneider in ihrem Essay Scham schreibt, dass hinter ihr eine innere Abwertung stehe, die sich so sehr mit dem Körper verbunden habe, dass sie gar nicht mehr von außen kommen müsse, weil man sie längst selbst vornehme.
Ich erkenne mich in dem Mann, das Eigene im anderen. Und dies lässt ein Gefühl fast wie Verliebtsein in mir hochkommen. Ich fühle mich dem Mann verbunden, begleitet von der Freude, nicht allein zu sein. Und zugleich bin ich traurig, weil dieser Mensch vor mir etwas Ähnliches erlebt haben muss. Er ist auch geschädigt worden. Vielleicht hat er auch nicht auf sich achtgegeben. Was ich mir selbst nie zugestand: über den Verlust zu trauern, den der Unbefangenheit; bei ihm kann ich es.
Meine Hand ist schon zu ihm ausgestreckt, da steigt er auf sein Fahrrad. Er hat es rechts von sich geschoben, um mit dem kräftigen Fuß beim Aufsteigen am Boden zu bleiben. Nur der ist der Garant für einen stabilen Stand. Es geht so schnell, und ich bin langsam, aus bekannten Gründen. Schon ist der Mann auf seinem Fahrrad mehrere Meter vor mir. Er hebt den Hintern aus dem Sattel und fährt über die Bordsteinkante auf die Straße. Ich weiß, dass er dafür den linken Fuß mittig auf dem Pedal halten muss, sonst knickt er durch das Gewicht des Körpers um. Der Mann verschwindet im Verkehr.
Wie das Schamgefühl entsteht und geht
Es ist die Unvollkommenheit, die uns durch den Blick auf die anderen auffällt. Der Gang, der abweichend wahrgenommen wird. Der Fuß, der im Vergleich verformt erscheint. Anders eben. Der genormte Schuhe ausbeult. Ein Bewusstsein, das spätestens mit der Schulzeit aufkommt, wenn gesellschaftliche Strukturen erfahren werden. Ich konnte es bei meinem Sohn beobachten. Die malt schöner als ich. Ich bin schneller als der. Die kann das überhaupt nicht. Es wird als gut oder schlecht betrachtet, mit Gefühlen wie Scham und Schuld verbunden, die viel früher angelegt werden. Die unsere Eltern uns mitgeben, unsere Kultur. Die aktiviert werden, wenn wir so oder so handeln. Unverantwortlich. Missbräuchlich. Es sind Prägungen, die uns oftmals gar nicht bewusst sind und die mich, auch wenn ich nackt bin und einem anderen Menschen körperlich so nahekomme wie nur möglich, trotzdem meinen Fuß verbergen lassen. Es ist dieser andere Mensch, in dessen Blick ich meine Verletzung sehe und vor ihr zurückschrecke. Es ist derselbe Mensch, der mir hilft, sie anzunehmen.
„Ich gehe jetzt duschen“, sagt Stefan, als er sich im zerwühlten Bett aufsetzt.
Ich schiebe den linken Fuß unter die rechte Wade, der Schenkel neigt sich dadurch zur Seite. Meine Scham öffnet sich, und Stefan legt seine Hand darauf. „Magst du mitkommen?“
Ich nicke, folge ihm in die Kabine. Stefan dreht sich zu mir, stellt das Wasser an, und wir finden einander unter dem Strahl. Er greift nach dem Duschgel. Wir seifen uns gegenseitig ein. Von Kopf bis Fuß.
DER ESSAY
In unserer Serie schrieben zuletzt:
Louise Brown über Unsicherheit, Stärke und die suggestive Macht des eigenen Vornamens in Mein Name ist Luise, Heft 2/2025
Georg Milzner über Archetypen, die man in Videospielen entdecken kann in Supermario für die Seele, Heft 10/2024
Melitta Breznik über ihre Reise auf den Spuren ihrer in der NS-Psychiatrie ermordeten Oma in Die Großmutter, die mir ähnlich sah, Heft 6/2024
Ilona Jerger über das Beobachten von Vögeln und wie es die Angst lindert in Der Vogelfuß und ich, Heft 2/2024
Theresa Pleitner über die übergriffige Seite der Wohltätigkeit in Über die Widersprüche des Helfens, Heft 10/2023
Karoline Klemke über ihre Lehrjahre im Studium und im Leben in Psychologie, meine Liebe, Heft 6/2023
…und viele mehr. Alle Essays finden Sie hier.
Schleichendes Gift
Was bedeutet zu Hause sein? Um diese Frage geht es in Maren Wursters aktuellem Roman. Die Städterin Gesa bezieht mit ihrer Tochter Marie ein altes Haus auf dem Land. Nach dem Tod ihres Mannes will sie der digitalisierten urbanen Welt entfliehen, die zur Dystopie geworden ist: Alle Menschen sind gechippt, Zugänge zu Orten und Ressourcen, etwa Supermärkten, werden kontrolliert. Der digitale Raum und seine Möglichkeiten sind zum ideologischen Dreh- und Angelpunkt geworden, nichts geht mehr ohne. Doch die Flucht aufs Land glückt nicht. Im neuen, alten Haus entwickelt Gesa Vergiftungserscheinungen, fühlt sich krank. Verzweifelt sucht sie im Gemäuer nach Ursachen, konsultiert Ärzte, aber niemand findet etwas. Die Vergiftung scheint etwas Inneres zu sein, hat mit ihrer Familiengeschichte zu tun, mit dem Zustand der Welt. Über verschiedene Stationen suchen Gesa und ihre Tochter nach einem Ort, an dem sie sich aufgehoben fühlen, an dem sie das schleichende Gift nicht erreicht. Der futuristische, spannende Text nimmt sich genug Zeit, psychologische Prozesse präzise zu beschreiben.
Maren Wurster: Hier bleiben können wir auch nicht. Berlin 2025
Maren Wurster, Jahrgang 1976, studierte Filmwissenschaft und Philosophie in Köln und später literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Ihr erster Roman Das Fell erschien 2017, es folgten zwei autofiktive Bücher, die sich mit dem Tod ihrer Eltern auseinandersetzen: Papa stirbt, Mama auch und Totenwache. Wurster hat zahlreiche Preise bekommen und wirkt im Autorinnenkollektiv Writing with Care/Rage mit, das sich kritisch mit Sorge- und Kreativarbeit auseinandersetzt. Ihr aktueller Roman Hier bleiben können wir auch nicht ist Anfang 2025 erschienen. Die Autorin lebt mit ihrem Sohn im Wendland.
Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Wir freuen uns über Ihr Feedback!
Haben Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Beitrag oder möchten Sie uns eine allgemeine Rückmeldung zu unserem Magazin geben? Dann schreiben Sie uns gerne eine Mail (an: redaktion@psychologie-heute.de).
Wir lesen jede Nachricht, bitten aber um Verständnis, dass wir nicht alle Zuschriften beantworten können.